betonprisma 95: Demokratie

Vergessene Wohnmaschinen

Projekte des sozialen Wohnungsbaus im Londoner East End

London nutzte seine dritten Olympischen Spiele für ein gewaltiges Stadterneuerungsprogramm im East End. Jetzt ist das Scheinwerferlicht auf die Stadt wieder abgeblendet und Normalität kehrt wieder in den ärmsten Teil der Stadt ein.

Während eines Streifzugs durch eine diffuse Stadtlandschaft stößt man unwillkürlich auf die beeindruckenden Tower Blocks der Nachkriegszeit. Die vergessenen Wohnmaschinen erinnern an den Glanz ihrer ruhmreichen Tage und künden von einer Zeit, als der soziale Wohnungsbau den Traum von Utopia verfolgte. Es war das London County Council (LCC), die erste demokratisch gewählte Stadtverwaltung Londons, das ein Jahr nach seiner Gründung 1890 mit dem „Housing of the Working Class Act“ in das Programm des staatlich geförderten sozialen Wohnungsbaus einstieg.

Demokratie als Bauherr

Mit dem Wiederaufbauplan „County of London Plan“ von Patrick Abercrombie sollte London nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals seit dem großen Brand von 1666 die Möglichkeit bekommen, sich gemäß der Idee der aufgelockerten Stadt radikal zu erneuern. Das bis dahin viktorianisch geprägte London wich einem Teppich clusterförmiger „social communities“, mit dem Ziel, die Durchmischung und Gleichstellung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zu erwirken. Es galt in vielen Teilen der Stadt, der voranschreitenden Verslumung und den prekären Wohnverhältnissen dunkler Milieus entgegenzuwirken. Mit Licht, Luft und Sonne halfen die jungen Architekten des LCC, die sich der Moderne verpflichtet sahen, den allzu zerstörten Stadtkörper zu reparieren. Der soziale Wohnungsbau diente als Vision einer besseren Zukunft und Inbegriff des demokratischen Bauens.
Zunächst schien das skandinavische, pittoreske Modell des Wohlfahrtsstaates die ideale Vermittlung zwischen Avantgarde und Tradition zu gewährleisten. Sie entsprach aber nicht dem Authentizitätsverlangen des Neubeginns. In einer kritischen Verarbeitung der Moderne beanspruchte gerade der New Brutalism in seiner unvermittelten sinnlichen Anmutung im Béton Brut, als Ästhetik der Wahrhaftigkeit, zugleich eine Ethik, die sich auf die alltägliche Rolle der gebauten Umwelt im Leben der Menschen bezieht.
Viele der Wohnmaschinen, wie der Balfron Tower (1963-65) des ungarischen Emigranten Ernö Goldfinger, waren durch die Unité d’habitation in Marseille von Le Corbusier angeregt und besetzten als „modern infills“ in der neuen Typologie des Tower Blocks die Brachen der ruinösen Stadtlandschaft. Das Zerrbild zwischen der einheitlichen „Thürchen Architektur“ (Schinkel) rotfarbener Terraces und den nackten Wohntürmen als neue städtische Fixpunkte ist bis heute erhalten geblieben.
Aufgrund ihrer Plastizität besitzen die monolithischen Betonbauten einen hohen Grad an Zeichenhaftigkeit. Ihr Transparenzbegriff reduziert sich nicht auf Stahl und Glas, sondern definiert sich aus der Ablesbarkeit von Form und Funktion sowie durch ihre konstruktive Ehrlichkeit. Die reine Materialästhetik entspricht dem Wunsch nach dem Direkten und Ursprünglichen. Erst durch die Aneignung soll der assoziative Rohbau seine Bestimmung finden – die Gemütlichkeit kommt am Schluss.

Die Krise der Wohnmaschine

In Truffauts Film „Fahrenheit 451“, gedreht 1966, versinnbildlichen die Wohnmaschinen noch die Sehnsuchtswünsche nach einer besseren Welt. Aber ab Mitte der 1960er Jahre scheinen sie bereits ihren Zenit überschritten zu haben. Mit der Popbewegung löste der Glamourfaktor das Kind der sparsamen Nachkriegszeit ab. Der Einsturz des Ronan Point Buildings 1968 forderte mehrere Menschenleben und beendete zugleich den Siegeszug des Tower Blocks. Eine zunehmend mangelnde Qualität in der Ausführung kehrte das Image des Tower Blocks in der Öffentlichkeit ins Negative.
Das neue Ideal einer Kleinstadt als Gemeinschaft sollte zu einer städtischen Komplexität führen, die gerade mit Alexandra Road Housing (1967-77) des Architekten Neave Brown für Camden Council ein Modell der „community architecture“ zum Leitbild werden ließ. Der Rückgriff auf die traditionelle Form des englischen Reihenhauses wird durch die übereinander gestapelten Maisonetteeinheiten modern interpretiert. Von der eigentümlichen Auffassung „my home is my castle“ des 19. Jahrhunderts ausgehend, versucht terne Fußgängerstraße bildet das Rückgrat der Großstruktur. Auf ihr spielt sich das nachbarschaftliche Zusammenleben ab. Das ambitionierte Wohnprojekt mit Schule und Gemeinschaftszentrum ist bei seinen Bewohnern angekommen und zeigt einen hohen Identifikationsgrad. Als die Tory-Regierung unter Premierministerin Thatcher Ende der 1960er Jahre einen radikalen Privatisierungskurs einschlug, verabschiedete sich die Politik aus ihrer Verantwortung. Mit der Zerschlagung der Planungsämter vollzog sich der Paradigmenwechsel auch im sozialen Wohnungsbau. Zwar gewährte man den Sozialmietern mit dem Right-to-Buy-Gesetz ein Vorkaufsrecht, jedoch führte dies letzten Endes zur massenhaften Entmietung.
Gentrifizierung und Spekulation Inzwischen gilt das brutalistische Erbe als bedroht, obwohl ihm ein gewisser Ikonenstatus zugestanden wird. Gerade in der Nachkriegszeit blickte die Welt mit großer Aufmerksamkeit auf das East End als Laboratorium eines experimentellen Wohnungsbaus. Einige der Tower Blocks, wie das Keeling House (1954-59, Architekt Denys Lasdun) stehen für die verfehlte Right-to-Buy-Politik und haben ihre Gentrifizierung bereits vollzogen. Hingegen muss nach einer langjährigen Abrissdiskussion der legendäre Sozialbau Robin Hood Gardens für den um sich greifenden Finanzsektor Canary Wharf endgültig Platz machen. Was folgt, ist eine marktkonforme Investorenarchitektur für eine gehobene Mittelklasse mit wertkonservativem Konsumverhalten, die die neue vibrant community beschwören soll.
Ein enormer wirtschaftlicher Druck macht sich heute auf die Immobilien im Osten bemerk- Brown über eigene Zugänge und Terrassen sowie gleichwertige Wohnverhältnisse dem Ideal des Eigenheims nahe zu kommen. Eine in bar sowie eine spürbare Verdrängung der sozial schwächeren Schichten durch steigende Mieten. Noch kann mittels einer Bezuschussung durch die Bezirke ein begrenztes Angebot an bezahlbarem Wohnraum im freien Immobilienmarkt gewährleistet werden – aber wie lange noch angesichts klammer Kassen? Diese Handlungsohnmacht geht einher mit der Krise der politischen Institutionen.
Wurde unter Blairs „New Labour“ mit CABE (Comission for Architecture and the Built Environment) und Design for London wieder eine übergeordnete Planungsabteilung eingerichtet, setzt der aktuelle Premier die Politik des Rotstifts erneut an. Design for London könnte als Erfolgsmodell bezeichnet werden, weil es übergeordnete städtebauliche Aufgaben von besonderem Entwicklungspotential in einem Netzwerk von Partnern von der ersten Phase des Entwurfs bis zur Realisierung bearbeitet. Im Verfahren zeigt sich der Charette-Workshop aus dem fragwürdigen New-Urbanism-Umfeld interessanterweise besonders zweckdienlich. Im Zusammenwirken von Investoren, Planern, Anwohnern sowie öffentlichen Trägergemeinschaften wurden wie im Fall der Neuarrondierung von Kings Cross oder einiger Olympiaprojekte die Leitlinien für die städtebauliche Vision gemeinsam festgesetzt. Ein vielversprechendes Modell, um die lokale Zivilgesellschaft stärker in den Planungsprozess zu integrieren. Also Interessensausgleich als Wegbereiter eines neuen demokratischen Bauens? Angesichts parteipolitischen Machtkalküls steht dies nun auf dem Spiel.

Dipl.-Ing. Florian Dreher
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut Entwerfen, Kunst und Theorie (EKuT) im Fachgebiet Architekturtheorie und lebt in Karlsruhe.

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